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Nocebo: Wer's glaubt wird krank

Buchcover Nocebo

Gebundene Ausgabe: 152 Seiten
Verlag: S. Hirzel Verlag; Auflage: 3. Auflage 2012
ISBN-10: 3777622958
ISBN-13: 978-3777622958
Preis: EUR 17,90

 

Vorwort

Sam Shoemann hätte nicht sterben müssen. Aber er war überzeugt davon, todkrank zu sein. Seine Ärzte gaben ihm nur wenige Monate. Und so schnell starb er auch. Aber nicht an seinem Tumor. Der war auch am Ende nicht bedrohlich. Shoemann starb an seiner Überzeugung, sterben zu müssen.

Derek Adams hatte sterben wollen. Er nahm 29 Kapseln eines Antidepressivums, die er im Rahmen einer Medikamentenstudie bekommen hatte. Die Überdosis war zu hoch, die Ärzte konnten ihm nicht mehr helfen. Bis sich herausstellte: Seine Überdosis waren nur Placebos - er gehörte zur Kontrollgruppe der Studie. Aber er war sicher, sich tödlich vergiftet zu haben. Nachdem er erfuhr, dass er nur ein Scheinmedikament geschluckt hatte, verschwanden die Symptome sofort. Adams war geheilt.

Aber es geht nicht nur um Leben und Tod, sondern um medizinische Alltäglichkeiten. Es geht etwa um Seekrankheit aus Angst vor Seekrankheit. Um Nebenwirkungen durch allzu intensives Studieren der Nebenwirkungen im Beipackzettel. Um Menschen, die sich einen Schnupfen bei Jemandem holen, der zwar niest aber gar keinen Schnupfen hat. Um chronische Kopfschmerzen in der Umgebung von Telefonmasten, die abgeschaltet sind. Um Verdauungsstörungen bei Menschen mit Laktoseintoleranz, die nachweislich gar nicht laktoseintolerant sind. Und um Herpes aus Ekel. Die Erwartung bestimmt die Symptome.

Es klingt wie Voodoo und schwarze Magie. Und es ist Voodoo - nur im modernen Gewand mit weißem Kittel und modernster Technik. Das Prinzip ist dasselbe: Vor allem in Afrika und Südamerika gelingt es Magiern noch immer, gesunde Menschen zu verhexen und krank zu machen. Oder gar zu töten. Die Voraussetzung ist, dass die Opfer an die Magie glauben, die der Zauberer gegen sie einsetzt. Ein moderner Westeuropäer ist gegen Zaubersprüche und Voodoopuppen vermutlich immun. Nicht aber gegen CT-Bilder eines Tumors im eigenen Kopf. Und schon gar nicht gegen einen anerkannten Tumorspezialisten und einen Satz wie: "Sie haben noch drei Monate!" Solche Prognosen unterscheiden sich wenig vom Voodooritual eines Magiers.

Der Noceboeffekt ist der nicht überraschende, logische und unwillkommene Zwilling des Placebos: Die Erwartung kann gesund machen - aber eben auch krank. Der Placoeboeffekt ist lange bekannt: Es ist unstrittig, dass etwa chronische Schmerzpatienten durch wirkstofffreie Scheinmedikamente geheilt werden können, dass Kniebeschwerden oft durch Scheinoperationen ebenso gut gelindert werden, wie durch einen echten Eingriff. Dass eine intensive Zuwendung ebenso heilt wie hochwirksame Medikamente. Dass der Glaube an die Heilung heilt.

Erst in den 60er Jahren bemerkte die Medizin die eigentlich nicht überraschende andere Seite desselben Effekts: Die Überzeugung, krank zu sein, macht krank. Die Erwartung von Schmerzen tut weh. Sogar Placebotabletten ohne Wirkstoff haben Nebenwirkungen - und zwar abhängig von deren Größe, Farbe und Form. Personen, die sich selbst zu einer Risikogruppe zählen, bekommen die erwarteten Krankheiten häufiger, als andere, die davon nichts wissen wollen. Rückenschmerzen werden umso leichter chronisch, je mehr Bilder ihrer vermeintlich "kaputten" Wirbelsäule die Patienten gesehen haben - unabhängig vom Krankheitswert des Befundes. Die Erwartung bestimmt den Verlauf, mit allen Risiken und Nebenwirkungen.

Von Placebo und Nocebo sind alle beide Geschlechter und alle Altersgruppen betroffen, ja sogar Tiere. Nicht weil die an eine Wirkung von Medikament oder Operation glauben würden, sondern weil sie die Zuwendung ihrer Umgebung spüren oder deren Angst. Es gibt nur eine Gruppe, die für beide Effekte nicht empfänglich ist: Alzheimerkranke im fortgeschrittenen Stadium ihrer Krankheit. Sie spüren die Bemühungen oder Befürchtungen ihrer Betreuer offensichtlich nicht mehr im ausreichenden Maße, um positiv oder negativ, mit einer Placebo- oder Nocebo Antwort zu reagieren. Alzheimerkranke sind für beide Effekte immun.

Deutschland ist ein Hochrisikoland: Niemand geht häufiger zum Arzt und wird mit mehr medizinischen Befunden überschwemmt, als der Deutsche. Nirgendwo werden mehr Patienten "in der Röhre", dem so genannten Kernspintomographen, untersucht, als hierzulande. Ein Gesundheitsrisiko, denn die vielen medizinisch irrelevanten Auffälligkeiten machen Angst. Mit dem Satz "das ist nicht schlimm, aber das sollten wir beobachten" werden aus Menschen plötzlich Patienten. Ein Zurück in die Zeit medizinischer Ahnungslosigkeit ist unmöglich. Aber der Umgang mit Prognosen, mit Röntgenbildern, mit Tabletten, mit viel Technik und wenig Worten muss überdacht werden. Eine kalt vorgetragene fatale Prognose wird schnell zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Der Blick in die Zukunft zeigt ein ganz neues Problem: Wenn die Erwartung einer Krankheit krank macht, dann sind die um sich greifenden Gen-Tests gefährlich: Denn wie lebt ein Mensch mit dem Wissen, dass sein Darmkrebsrisiko deutlich erhöht ist? Wie geht jemand mit erhöhten Krankheitsrisiken um, gegen die er in keiner Form handeln kann, wie etwa bei Alzheimer? Gendiagnostik ist Voodoo mit High-Tec-Instrumenten.

Überraschenderweise kann der Nocebo-Effekt sogar dann funktionieren, wenn der Betroffene weiß, dass er getäuscht wird. So wie der Allergiker, der durch das Bild einer Blütenwiese einen Asthmaanfall bekommt oder durch eine Plastikrose. Ihm nützt es auch nichts, dass der Verstand sagt, dass es nur ein Bild ist. Die Erwartung kann krankmachen - selbst wenn man nicht wirklich glaubt.